Die Zukunft muss heute gedacht werden
Prof. Dr. Andreas Jess, Lehrstuhl für chemische Verfahrenstechnik an der Universität Bayreuth, über die Zukunftsfähigkeit seiner Wissenschaft, Ethos und die Frage, wie viel Erde braucht der Mensch.
Wissenschaft braucht kein Zusatzdekor. Was zählt, ist der Gedanke und die Idee allein. Das sieht man auch dem schnörkellosen Konferenzraum in dem Gebäude des Lehrstuhls für chemische Verfahrenstechnik an der Universität Bayreuth an. Ein paar Fachbücher und Publikationen stehen wohl geordnet im Regal, die Wände sind weiß. Aber neutral geht es hier darum noch lange nicht zu. Es werden Positionen bezogen. Nicht nur rein wissenschaftlich. Es geht immer auch um die Zukunft von uns allen. Was vielleicht wie ein hehres Pathos klingt, in Bayreuth ist es die Detailarbeit an global wichtigen Themen und Fragestellungen. Hier geht es um Wertstoffe – und die kann man eben nicht neutral sehen. Einerseits werden große Themen wie Katalysatoren, Kraftstoffe, Kohlenstoff-Nanomaterialien und ionische Fluide erforscht, aber es ist auch das gewonnene Wissen selbst, das ein herausragender Wertstoff ist.
Herr Prof. Jess, was sind die besonderen Herausforderungen der chemische Verfahrenstechnik im frühen 21. Jahrhunderts?
JESS: Es gibt natürlich gleich eine ganze Reihe von Herausforderungen, die uns konkret beschäftigen. Die Welt steht ja zunächst einmal vor zwei grundsätzlichen Fragestellungen. Wie kann man ausreichend bezahlbare, möglichst CO2-freie Energie bereitstellen? Und wie gelingt uns das mit Trinkwasser und Nahrung? Das sind die beiden Kernfragen des Jahrhunderts.
Welche Möglichkeiten hat Ihr Lehrstuhl diesen Herausforderungen aktiv zu begegnen?
JESS: Als Wissenschaftler interessiert uns die derzeitige Situation nicht bzw. sie steht nicht im Vordergrund, wir versuchen Lösungsansätze für die Zukunft zu entwickeln. Das ist der wichtigere Ansatz. Als Ausbildungsstätte bilden wir hochqualifizierte Ingenieure aus, die unser Land mehr denn je dringend benötigt; und als Forschungseinrichtung sind wir der reinen Forschung mit Erkenntnisgewinn verpflichtet. Unsere Aufgabe ist es, den Wissensstand voranzubringen und an der Zukunft mitzuarbeiten. Wir an der Hochschule haben einen hohen Freiheitsgrad. Das zeigt sich auch in unserer Haltung. Wir arbeiten hier nicht nach der Stechuhr, es geht eher familiär zu und die Arbeit muss uns Spaß machen.
Was bedeutet das für Ihre Doktoranden?
JESS: Sie haben viele Freiheiten, das nützt vor allem der Forschung selbst und sie können ausschließlich an ihrer Promotion arbeiten. Gerade mal einen halben bis maximal ganzen Tag in der Woche nehmen sie innerhalb des Lehrstuhls andere Aufgaben wahr. Dies ist nur möglich, da die Doktoranden intensiv durch die festangestellten Lehrstuhlmitarbeiter unterstützt werden, also von erfahrenen, bereits promovierten akademischen Räten, vom technischen Personal, ohne die ein Forschungsbetrieb nicht aufrecht erhalten werden kann, und beratend von mir als dem betreuenden Doktorvater. Wir haben so in knapp zehn Jahre 23 Doktoranden promoviert. Sie alle haben wirklich gute Chancen erhalten, entsprechende Karrieren in der Industrie und an Forschungsinstituten zu machen.
Natürlich ist man als Wissenschaftler auch seinem eigenen Ethos verpflichtet. Was bedeutet das für Ihre Arbeit hier in Bayreuth?
JESS: Das ist immer so eine Sache. Natürlich sollte bei jeder Forschungsarbeit etwas herauskommen. Das ist klar. Aber wir müssen uns auch eingestehen, dass man als Wissenschaftler viel aus Irrtümern lernen kann. Während der Forschungsarbeit können sich Hypothesen verändern und müssen überdacht werden. Wissenschaftlich wertvoll - wenngleich natürlich für den Forscher nicht so befriedigend - ist auch die Erkenntnis, das ein eingeschlagener Weg nicht zielführend war. Auch Zufälle „pfuschen“ einem immer wieder rein – Gott sei Dank. Oft ergeben sich erst in der Arbeit neue Gedanken. Die können dann ausschlaggebend für den weiteren Forschungsprozess sein. Das ist eine wichtige Basis meines wissenschaftlichen Denkens. Was das Ethos konkret anbelangt – die Arbeit muss nützlich sein. Wenn ich ein Projekt für unsinnig halte, mache ich es nicht. Und natürlich werden hier keine Projekte gemacht, die mit meiner Moral unvereinbar sind, also etwa militärischen Zwecken dienen oder mit dem Gedanken der Umweltverträglichkeit unvereinbar sind; eine Ausnutzung von gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnissen für unmoralische Zwecke ist dabei leider nie ganz auszuschließen.
Eine gewisse Moral ist aber auch wissenschaftlicher Antrieb. Ihr Institut beschäftigt sich ja mit wesentlichen Zukunftsfragen von uns allen. Welchen Beitrag kann ein Institut überhaupt leisten?
JESS: Der wissenschaftlichen Grundlagen der chemischen Verfahrenstechnik, die als Fachdisziplin an der Schnittstelle von Chemie „im Reagenzglas“ und industrieller Produktion angesiedelt ist, müssen und können von uns weiterentwickelt werden. Darüber hinaus haben unsere Arbeiten aber auch eine hohe anwendungsbezogene Relevanz für die Gesellschaft. Wir persönlich können sicher nur einen wirklich geringen Teil der großen Menschheitsfragen angehen. Alles andere wäre ja romantisch. Aber wir können unseren Beitrag mit sehr viel Akribie vorantreiben. Der Wertegewinn liegt einerseits in unserer Funktion als hochqualifizierte Ausbildungsstätte. Andererseits sind manche unserer Projekte auch wegweisend, haben einen kommerziellen Erfolg und wir oder mit uns kooperierende Unternehmen können dann Patente anmelden.
Ein wichtiges Forschungssegment spiegelt sich natürlich in dem Wunsch wider, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen. Dies gilt vor allem für Erdöl, das viel zu schade ist, um - wie leider zur Zeit immer noch - zu etwa 90 % bloß in Form von Kraftstoffen wie Benzin und Dieselöl verbrannt zu werden; nur der kleine Restanteil wird genutzt, um chemische Produkte wie Kunststoffe oder Feinchemikalien wie Farbstoffe oder Pharmazeutika herzustellen. Wie kann man beispielsweise aus Biomasse oder Sonnenenergie möglichst CO2-freie, also klimaneutrale Kraftstoffe herstellen? Das ist generell eine der wichtigen Kernfragen unserer Forschungsarbeit. Ein verfahrenstechnischer Traumprozess, an dem wir derzeit intensiv arbeiten, ist die Umsetzung von CO2 - möglichst direkt aus der Luft - mit solar erzeugtem Wasserstoff in flüssige Kraftstoffe wie Dieselöl.
Neben diesen energetisch-relevanten Themen forschen wir auch an anderen Fronten der chemischen Verfahrenstechnik. Zu nennen wäre z.B. Kohlenstoff-Nanomaterialen, neue umweltverträglichere Lösungsmittel wie ionische Flüssigkeiten und effizientere Katalysatoren und Prozesse.
Sie haben eben selbst ja vor einiger Zeit zu einem energiepolitischen Thema eine interessante Untersuchung vorgelegt. Dabei ging es um die Frage, wieviel Energie der Mensch (im globalen Mittel) wirklich braucht, um glücklich und zufrieden zu sein, und wie dies mit der Ökologie (Klimaproblematik, Ressourcenverbrauch von Energieträgern) vereinbar ist. Was haben Sie genau festgestellt?
JESS: Wir werden bis 2050 ungefähr 9 Milliarden Menschen auf der Welt haben. Das sind 2 Milliarden mehr als heute. Da stellt sich zunächst einmal die Frage, wie viel Energie braucht ein Durchschnittsmensch auf einer sozialverträglichen Erde? Dieser Frage kann man gut mit sozialen Indikatoren nachgehen - Kaufkraft, Human Development Index, der auch Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung berücksichtigt, und der sogenannte Subjective Well-being Index, der ein Maß für die persönliche Zufriedenheit ist, eine Art „Happiness“-Faktor. Es ist festzustellen, dass der Zufriedenheitsgrad ab einem Jahreseinkommen von 20.000 US-Dollar praktisch nicht mehr ansteigt. Das gilt auch für den Energieverbrauch. Ab einem jährlichen Verbrauch, der zwei Tonnen Erdöl pro Kopf entspricht, ist das schon so. In Deutschland verbrauchen wir demgegenüber derzeit 4 Tonnen Erdöläquivalente; in Nordamerika sogar acht Tonnen. Wir leben also vor allem in den Industriestaaten auf einem viel zu hohen (Energie)Niveau – das sagt natürlich jeder, aber jetzt wissen wir auch, dass dieses viel zu hohe Niveau uns keineswegs glücklicher macht. Und das ist neu. Dies heißt also: Wir können (und müssen) unseren Energieverbrauch halbieren und gleichzeitig den Entwicklungsländern einen höheren Verbrauch zugestehen. Aber energiemäßig halbiert leben wir genauso gut. Vielleicht sogar besser, weil die Zukunftsangst damit auch sinken dürfte.
Auf der anderen Seite müssen wir - als Forschungseinrichtung und auch Individuen - natürlich die Folgen unseres Handelns (Energieverbrauch, Wasserverbrauch, Bodennutzung etc.) für die globale Ökologie bedenken. Messbar ist dies durch den ökologischen Fußabdruck. Leider bräuchten wir heute bereits 1,5 Erden, um im ökologischen Einklang mit unserer Umwelt zu leben. Bei der Lebensweise von uns Deutschen sogar zwei und bei der der Nordamerikaner vier. Es lässt sich leicht abschätzen, dass angesichts der steigenden Weltbevölkerung auch bei einer im globalen Mittel zufriedenen Weltbevölkerung - also zwei Tonnen Erdöläquivalente pro Kopf und Jahr - wir sehr zügig in den nächsten Jahrzehnten den Verbrauch an den fossilen Energieträgern Kohle, Erdgas, Erdöl und die damit verbundenen CO2-Emissionen drastisch reduzieren müssen, um eine drohende Klimakatastrophe zu verhindern. Gerade für uns als sehr rohstoffarme Industrienation ist dies aber auch eine große Chance, da wir (nur) durch die Entwicklung entsprechender alternativen CO2-freien Technologien unseren Lebensstandard werden halten können.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie für sich als Wissenschaftler aus dieser Erkenntnis?
JESS: Wir müssen alles dafür tun, alternative Techniken zu entwickeln ohne dass die Schere zwischen arm und reich national und vor allem global nicht noch weiter auseinander geht. Da ist nicht zuletzt die Wissenschaft stark gefordert. Das zeigt sich auch an den Aufträgen, wenn z.B. Energie (Erdöl) teurer wird, die wir aus der Industrie bekommen, und das Interesse, dass uns dann besonders von Politik und Medien entgegen gebracht wird.
Im Zuge von Tschernobyl und Fukushima scheint der Wissenschaftler immer mehr zum Kronzeugen der Politik zu werden. Wie sehen Sie das? Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Müssen Sie in Zukunft schneller arbeiten?
JESS: Viele Politiker denken leider heutzutage meist nur noch in sehr kurzen Zeiträumen, also in der Regel etwa vier Jahre weit. Dies gilt in der Bildungspolitik ebenso wie in der Energie- oder Umweltpolitik. Ich poche aber auf die Freiheit der Wissenschaft und möchte mich nicht einfach vor einen Karren spannen lassen. Nur Gründlichkeit und nicht schnelle verkürzte Meinungsäußerungen bringen uns weiter. Ich kenne keinen Professor, der nicht eine 50, 60-Stunden-Woche hat. Wissenschaft treibt einen immer an, natürlich auch außerhalb der Uni, das ist doch klar.
Welche menschlichen Aspekte kommen da hinzu? Dürfen sich Wissenschaftler irren?
JESS: Ein Wissenschaftler muss sich sogar irren können, nur aus dem Irrtum, also wenn wir wissen, dass etwas eben nicht funktioniert und die Hypothese nicht zu halten ist, gewinnen wir doch eine wichtige Erkenntnis und können uns neuen Ansätzen zuwenden.
Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Instituts in Bayreuth?
JESS: Die Zukunft wird nicht unbedingt heißen, quantitativ zu wachsen. Die Größe unseres Lehrstuhls stößt langsam aufgrund der räumlichen Gegebenheiten an ihre Grenzen. Die Ausstattung ist zwar gut, kann aber noch in mancher Hinsicht noch verbessert werden. Man kann hier in Bayreuth wirklich ausgezeichnet arbeiten. Ich will ehrlich sein. Unsere Zukunft sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Probleme der Menschheit werden wachsen – und unsere Arbeit damit. Würde beispielsweise der Benzinpreis noch mehr steigen, würde wir noch mehr Forschungsaufträge bekommen. Jetzt müssen Alternativen entwickelt werden und dafür sind wir gut aufgestellt.
Herr Professor Jess, wir danken Ihnen für das Gespräch.